where the dust dwells
and the rust sings
dusk is silently falling
like silver snowflakes
into oblivion

14 January 2011

BOOKS FOR URBAN EXPLORERS # 3
ERNST KREUDER: DIE GESELLSCHAFT VOM DACHBODEN


"Ich habe früher", sagte Oskar, "allerlei gesammelt. Keine Pfeifen, Spazierstöcke oder Briefmarken. Aber in den Tandlerläden, bei den Antiquaren trieb ich oft etwas auf, was mir gefiel. Ich habe auch Kleider gesammelt. Wenn ihr von der Truhe aufsteht, können wir sie uns einmal betrachten."
Wir standen auf, und Oskar schloss die Truhe auf und klappte den Deckel hoch. Er wühlte in der Truhe und zog einen siebenarmigen Leuchter heraus. Ein Paket Kerzen. Die Kerzen passten nicht, sie waren zu dick. Er fischte ein anderes Paket heraus. Diesmal waren es die richtigen Kerzen. Er steckte sieben in den Leuchter, zündete sie an. Karl musste den Leuchter halten.
"Gib acht, dass nichts hineintropft", sagte Oskar und wühlte weiter. Im Kerzenschein blitzte und funkelte es in der Truhe.
"Und hier ist so ein Kleid", sagte Oskar und zog es hervor.
"Das ist kein Kleid", sagte Waldemar, "das ist eine Art heidnisches Messgewand, schwarz mit Goldstickereien, Sonne, Mond und Sterne, ich würde es sofort anziehen."
"Hier sind noch mehr davon", sagte Oskar und faltete ein grünes Gewand auseinander, auf dem feuerspeiende Drachen sich tummelten. Karl hielt es an sich und blickte Oskar fragend an. Oskar nickte, er zog das nächste aus der Truhe. Dunkelblau, mit Kapuze und weiten Ärmeln. Ein goldener Fisch war daraufgestickt, ein silbernes Einhorn, eine weiße Lilie, ein grauer Silberreiher und eine goldene Leier. Er gab es mir. Dann brachte er einen zweiten siebenarmigen Leuchter zum Vorschein. Karl steckte die Kerzen hinein. Oskar hatte ein rotes Gewand herausgezogen, hielt es auseinander, es hatte schwarze Kreise, in den Kreisen waren die Sternbilder mit weißen Perken angebracht. "Für mich", sagte er und legte es aufs Bett.
"Welche Schätze", sagte Waldemar bewundernd, "wenn du nun noch für Ludwig und Wilhelm ein Gewand hast, können wir uns den guten Geistern schon eher zeigen. Wir wollen jetzt noch nichts anziehen."
Oskar holte einen gelben Umhang aus der Truhe, blaue Meere, grüne Berge und goldene Wälder waren daraufgestickt.
"Und diesen hier für Wilhelm", sagte er. Er war das schönste Gewand, weiße Seide mit gelben, musizierenden Engeln darauf. Die Engel spannten große Schwingen aus und spielten schwebend auf Harfen und Schalmeien.
"Wir wollen sie einstweilen auf dem Bett ausbreiten", sagte Waldemar, "bügeln können wir sie nicht, ihre Pracht wird von den Falten nicht beeinträchtigt."
Wir legten die Gewänder sorgfältig auf das rotkarierte Plumeau, nachdem wir es glattgestrichen hatten. Oskar setzte das Teewasser auf den Spirituskocher.
"Von dieser Überraschung will ich mich erst etwas erholen", sagte Waldemar. "Wir haben einen unerwartet guten Anfang gemacht. Nun fehlt uns noch ein bescheidener, unauffälliger Raum. Keine Dekoration, keine Teppiche, am besten Sand oder Stein als Fußboden."
"Unter dem Keller", sagte Karl, "läuft ein unterirdischer Gang. Er soll früher zu den Kasematten geführt haben und wurde dann zugemauert, ist aber noch ziemlich lang. Etwa in der Mitte ist noch ein Gelass, ein viereckiger Raum."
"Dann war also schon ein Fundament vorhanden", sagte Waldemar, "als das Haus gebaut wurde?"
"Der Einstieg zu dem unterirdischen Gang war verschüttet", sagte Karl. "Ein Realschüler brachte mir eines Tages den Plan in den Laden, hatte ihn in der Schule, im Zeichensaal gefunden. Wir gingen zusammen hierher und gruben hinter dem Holunderbusch, der jetzt nicht mehr da ist, nach und fanden den Einstieg. Dann kaufte ich den Bauplatz. Meine Frau wusste nichts davon. Es sollte doch eine Überraschung für sie werden."
"Wir wollen uns diesen Gang mal ansehen", sagte Waldemar. "Du nimmst den Leuchter", sagte er zu Karl, "und führst uns. Einer bleibt solange hier."
"Ich werde inzwischen den Tee machen", sagte Oskar. Wir verließen den Verschlag und gingen durch den Keller bis zu dem letzten Verschlag in der Ecke. Dort schloss Karl ein Vorhängeschloss auf.
"Unter der Kiste", sagte Karl. Wir traten in den leeren Kellerraum, Karl hielt den Leuchter hoch, Waldemar schob die längliche Kiste fort. VOR NÄSSE SCHÜTZEN! BÜCHER! stand auf der Kiste.
"Keine Treppe oder Leiter?" fragte Waldemar. Karl schüttelte den Kopf. Waldemar ließ sich in die quadratische Öffnung hinunter. "Es geht schräg hinunter", sprach er von unten, "ich brauche eine Kerze."
Karl zog eine brennende Kerze aus dem Leuchter und reichte sie ihm hinunter. Dann stieg auch ich hinein, ließ mir den Leuchter geben, und dann kam Karl. Der Gang war mit Steinquadern ausgebaut. Der Boden bestand aus Steinplatten. Die Kerzen brannten ruhig, die Luft war hier unten gut und ausreichend. Wenn ich den Arm hob, konnte ich mit den Fingerspitzen die Decke berühren. Waldemar war plötzlich vor mir verschwunden. Wir gingen weiter und sahen seine Kerze seitlich in einem länglichen, viereckigen Raum flackern. Der Boden war trocken und reingefegt. Nirgends war eine Öffnung. Waldemar leuchtete die Wände ab und klopfte gegen die schweren Steine. Auch hier war die Luft rein und schmeckte nach Steinen.
"Hier sind wir am richtigen Ort", sagte Waldemar. Er stand in der Mitte des unterirdischen Raumes und hielt den Leuchter. "Die gewohnt sind, durch Wasser und Steine zu blicken, werden uns hier unschwer finden. Es wird doch schöner, als ich gedacht hatte. Seid jetzt mal ganz still."
Wir bewegten uns nicht. Ich fühlte es mehr, als dass ich es hörte, ich hätte es nicht beschreiben können.
"Wir müssen die Kerzen einmal auslöschen", sagte Waldemar. Dann war es stockdunkel. Der Geruch der nachschwelenden Kerzen lenkte mich noch eine Weile ab. Als die Luft wieder rein geworden war, konnte ich es wieder fühlen. Vielleicht war es nur das Ineinanderwohnen der Steine, der Stille und des Dunkels. Es war leicht und wie nichts. Und doch war es geschlossen, verbunden, die Zusammenkunft von Stein und Luft und Zeit. Es störte mich zuerst, dass ich uns leise atmen hörte. Wäre ich ganz allein gewesen, vielleicht hätte ich dann das Wort gefunden. Es war, als walteten durch das Dunkel die unteren Fernen der Erde. Sie klangen unhörbar in der alten Einsamkeit der Steine. Die Stille war ausgeruht über dem Reich der Tiefen. Die Luft schmeckte nicht nur nach Steinen, sondern nach Vergangenheiten aus Leere und Nichts. Zukunftslos dauernd war hier etwas unverstört geblieben, Dunkel und Stille räumten die Zeit aus. Und doch schien hier etwas zu warten, ich fühlte mein Herz klopfen, es war, als klopfe es eine Antwort, ich konnte das Warten spüren, nicht lauernd, eher gelassen und unausdenkbar verstummt.
Waldemar strich ein Zündholz an, entzündete Kerze um Kerze.
"Ich glaube, es genügt", sagte er leise, ohne uns anzusehen.
Karl nickte still. Er hatte die Hand um den Hals gelegt und schluckte.
"Gehen wir", sagte Waldemar, "wir werden hier unten nicht unwillkommen sein."
Er ging mit dem Leuchter voran. Wir folgten ihm durch den Gang, er kletterte hinaus, reichte uns nacheinander die Hand und half uns heraus. In Oskars Verschlag brannte der zweite Leuchter. Er blies die Kerzen aus, als wir eintraten. Das Teewasser summte im Topf.
"Da sind wir wieder", sagte Waldemar und setzte sich auf die Truhe, "zurück aus der Steinkammer."

ERNST KREUDER
SUHRKAMP VERLAG

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