where the dust dwells
and the rust sings
dusk is silently falling
like silver snowflakes
into oblivion

11 April 2011

BOOKS FOR URBAN EXPLORERS # 7
H.P. LOVECRAFT: DIE TRAUMFAHRT ZUM UNBEKANNTEN KADATH

Dreimal träumte Randolph Carter von der wunderbaren Stadt, und dreimal wurde er aus seinen Träumen gerissen, während er noch auf der Terrasse hoch über ihr innehielt.
Goldübergossen und herrlich erglühte sie im Sonnenuntergang, mit Straßen und Tempeln, Säulengängen, gewölbten Brücken aus reichgeädertem Marmor, silbergründigen, regenbogenfarbigen Springbrunnen, breiten Straßen, die zwischen zierlichen Bäumen dahinliefen, schimmernden Reihen blütenüberladener Urnen und Elfenbeinstatuen, während sich an den steilen nördlichen Hängen rote Dächer und alte, spitze Giebel emporschachtelten, die grobgepflasterte, grasüberwachsene kleine Gassen verbargen.
Die Stadt war ein Fieber der Götter, eine Fanfare überirdischer Trompeten, ein Schmettern unsterblicher Zimbeln.
Ein Geheimnis schwebte über ihr wie Wolken um einen sagenhaften, nie betretenen Berg.
Als Carter, atemlos und erwartungsvoll, auf jener säulengeschmückten Brustwehr stand, umfingen ihn der bittere Hauch und der schwebende Reiz fast verschollener Erinnerung, der Schmerz um das Verlorene; und das rasende Verlangen stieg in ihm auf, erneut in Besitz zu nehmen, was einst ein bedeutungsvoller und ehrfurchtgebietender Ort gewesen war.
Er wusste, dass dieser Ort früher für ihn einmal von höchster Bedeutung gewesen sein musste, doch konnte er nicht sagen, in welchem Zeitalter oder in welcher Verkörperung er ihn kennengelernt hatte, ob es im Traum oder im Wachen geschehen war. Der Anblick rief verschwommene Bilder einer frühen Jugend hervor, die weit im Vergessen lag, rätselhafte Tage voller Staunen und Lust, wo Morgenröte und Abenddämmerung sich gleichermaßen prophetisch öffneten für Lautenklänge und Gesang, unverschlossene, feurige Tore, die zu entlegenen und überraschenden Wundern führten.
Doch jede Nacht, wenn er auf der hohen Marmorterrasse mit den seltsamen Urnen und dem gemeißelten Geländer stand und hinausblickte über diese in Schweigen gehüllte Stadt des Sonnenuntergangs, aufgehoben in ihrer unirdischen Schönheit, empfand er die Knechtschaft, die ihn den tyrannischen Göttern des Traums unterwarf; denn er konnte diesen hochgelegenen Platz auf keine Weise verlassen oder die breiten Fluchten der Marmortreppen hinabsteigen, die sich endlos hinunterschwangen, zu den Straßen älteren Zaubers, die sich wie eine Verlockung ausbreiteten.
Als er zum dritten Mal erwachte, ohne die Treppen hinabgestiegen zu sein oder die verschwiegenen abendlichen Gassen durchquert zu haben, betete er lange und inbrünstig zu den verborgenen, launenhaften Göttern des Traums, die über den Wolken des unbekannten Kadath hausen, inmitten der kalten Wüste, die keines Menschen Fuß durchmisst. Aber die Götter gaben keine Antwort; weder verrieten sie Mitleid, noch gaben sie ein ermutigendes Zeichen, als er im Traum zu ihnen betete und sie, zu jedem Opfer bereit, durch die bärtigen Priester von Nasht und Kaman-Thah anflehen ließ, deren Höhlentempel mit seiner Flammensäule unweit vor den Toren zur wachen Welt liegt. Seine Gebete schienen zwar gehört, aber ungünstig aufgenommen worden zu sein, denn sogleich nach dem ersten war es ihm ganz unmöglich, die wunderbare Stadt zu gewahren; als wären die drei flüchtigen Eindrücke aus der Ferne bloß zufällig oder versehentlich und gegen die geheimen Pläne oder den Willen der Götter zustande gekommen.
Schließlich, zerrissen vom Verlangen nach jenen im Sonnenuntergang funkelnden Straßen, den verborgenen Hügelgassen zwischen alten Ziegeldächern, und außerstande, sie aus seinem Hirn zu verbannen, weder im Schlaf noch im Wachen, beschloss Carter, kühn und herausfordernd dorthin zu gehen, wohin noch niemand zuvor gegangen war. Er wollte den eisigen Wüsten und der Finsternis trotzen und nach dort aufbrechen, wo das unbekannte Kadath, wolkenverhüllt und gekrönt von ungeahnten Sternen, sein mächtiges Geheimnis verbarg: das Onyx-Schloss der Großen.
In leichtem Schlummer stieg er die siebzig Stufen zur Flammenhöhle hinab und erzählte den bärtigen Priestern Nasht und Kaman-Thah von seinem Plan. Die Priester schüttelten die Köpfe und erklärten feierlich, dies würde den Tod seiner Seele bedeuten. Sie wiesen darauf hin, dass die Großen ihren Wunsch bereits zu erkennen gegeben hätten und dass es nicht angemessen sei, sie mit hartnäckigem Widerspruch zu belästigen. Sie erinnerten ihn auch daran, dass kein Mensch jemals nach Kadath gelangt sei und dass man nicht einmal mutmaßen könne, in welchem Bereich des Weltraums es sich befinde, ob in den Traumländern unserer Welt oder in der Umgebung eines ungeahnten Gefährten Formalhauts oder Aldebarans.
Läge es in unserem Traumland, so könne man sich vorstellen, dass es zu erreichen sei; aber nur drei menschliche Seelen hätten seit Anbeginn der Zeiten die schwarzen, ruchlosen Abgründe überquert auf der Fahrt zu anderen Traumländern und seien von dort zurückgekehrt; zwei davon habe jedoch der Wahnsinn ergriffen. Es gab bei solchen Reisen an gewissen Orten Gefahren, die vorher nicht einzuschätzen waren; dazu kam noch die bestürzende äußerste Gefahr, jenes sinnlose Kauderwelsch außerhalb der geordneten Welt, wohin keine Träume reichen, jener letzte gestaltlose Pesthauch niedrigster Verworrenheit, der in der Mitte aller Unendlichkeit von Lästerungen überquillt: der entfesselte Sultan Azathoth, dessen Name kein Mund laut auszusprechen wagt.
In unvorstellbaren, unbeleuchteten Gemächern jenseits der Zeit zerfrisst ihn der Hunger, inmitten des tosenden, dumpfen Gedröhns abscheulicher Trommeln und des dünnen, eintönigen Gewinsels gottloser Flöten. Zu diesem abscheulichen Hämmern und Pfeifen tanzen langsam, schwerfällig und geistesabwesend die gigantischen Letzten Götter, die blinden, stummen, düsteren und seelenlosen Anderen Götter, deren Seele und Stimme Nyarlathotep ist, das gestaltlose Chaos.
Vor diesen Gefahren wurde Carter in der Flammenhöhle von den Priestern Nasht und Kaman-Thah gewarnt, aber dennoch war er entschlossen, die Götter im unbekannten Kadath in der kalten Wüste zu finden, wo immer es sein mochte, und ihre Zustimmung zu gewinnen; diese wunderbare Stadt des Sonnenuntergangs zu sehen, dort Obdach zu finden und seine Erinnerung zurückzuerlangen. Er wusste, dass seine Reise ungewöhnlich lang sein würde und die Großen nicht mit ihr einverstanden waren, doch da er sich im Land des Traumes wohl auskannte, rechnete er auf viele nützliche Erinnerungen und Kunstgriffe, die ihm beistehen sollten. So erbat er einen feierlichen Segen von den Priestern, bedachte nüchtern seinen weiteren Weg, stieg mutig die siebenhundert Stufen zum Tor des tieferen Schlummers hinab und begann den Marsch durch den Zauberwald.
In den unterirdischen Gängen dieses verfilzten Waldes, dessen ungeheure Eichen sich mit suchenden Ästen ineinander verschlingen und die vom magischen Leuchten seltsamer Pilze düster schimmern, wohnen die hinterlistigen Zoogs. Sie kennen viele dunkle Geheimnisse der Traumwelt und einige wenige aus der wachen Welt, weil der Wald an zwei Stellen die Länder der Menschen berührt; doch wäre es verhängnisvoll zu sagen, wo das ist. Manch ungeklärte Tumulte und Zwischenfälle gibt es dort, ja, Menschen verschwinden spurlos, wo die Zoogs Zutritt haben; und es ist nur gut, dass sie die Traumwelt nicht zu ausgedehnten Reisen verlassen können. Doch in den nähergelegenen Gebieten der Traumwelt bewegen sich die winzigen braunen Wesen frei, huschen unsichtbar umher und bringen aufreizende Geschichten mit zurück, um sich an ihren Feusrstellen im Wald, den sie lieben, die Zeit zu verkürzen.
Die meisten leben in Höhlen, doch einige bewohnen die Stämme großer Bäume. Obgleich sie meistens von Pilzen leben, geht das Gerücht um, dass sie auch Geschmack an Fleisch finden, ob körperlich oder geistig; es ist nämlich sicher, dass viele Träumer diesen Wald betreten und ihn nicht wieder verlassen haben.
Trotzdem empfand Carter keine Furcht, denn er war ein erfahrener Träumer, hatte die flattrige Sprache der Zoogs erlernt und mehr als ein Bündnis mit ihnen geschlossen. Durch ihre Hilfe hatte er die herrliche Stadt Celephais in Ooth-Nargai gefunden, die jenseits der Tanarian-Hügel lag und in der für die Hälfte des Jahres der große König Kuranes regierte, ein Mann, den er unter einem anderen Namen als Lebenden gekannt hatte. Kuranes war die einzige Menschenseele, die in den Abgründen der Sterne gewesen und seelisch unversehrt zurückgekommen war.
Während er sich durch die engen phosphoreszierenden Schneisen zwischen den gigantischen Stämmen hindurchwand, gab Carter flattrige Töne in der Art der Zoogs von sich und horchte von Zeit zu Zeit, ob er Antwort bekam. Er erinnerte sich, dass eine besondere Siedlung dieser Wesen sich in der Mitte des Waldes befand, wo ein Kreis großer, bemooster Steine auf einer früheren Lichtung von älteren und schrecklichen, längst vergessenen Bewohnern zeugte. Diesem Ort strebte er in größter Eile zu. Er verfolgte seinen Weg mit Hilfe der grotesken Pilze, die immer wohlgenährter zu werden schienen, je näher man an den grausigen Kreis herankam, wo ältere Wesen getanzt und geopfert hatten.
Schließlich enthüllte das starke Licht der großen Pilze eine düstere, grüngraue Masse, die durch das Blätterdach des Waldes stieß und dort den Blicken entschwand. Dies war der am nächsten gelegene große Steinring, und Carter wusste, dass er sich dicht vor der Siedlung der Zoogs befand. Er begann aufs neue flattrige Töne von sich zu geben, wartete geduldig und wurde schließlich durch das sichere Gefühl belohnt, dass viele Augen ihn beobachteten. Es waren die Zoogs. Man sieht nämlich ihre geisterhaften Augen lange bevor man ihre kleinen, glatten braunen Umrisse genau erkennen kann.
Die Zooge schwärmten von ihren verborgenen Höhlen und durchlöcherten Bäumen aus, bis die ganze schwach erhellte Gegend von ihnen erfüllt war.


H.P. LOVECRAFT
HOBBIT PRESSE / KLETT-COTTA

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