where the dust dwells
and the rust sings
dusk is silently falling
like silver snowflakes
into oblivion

03 May 2011

BOOKS FOR URBAN EXPLORERS # 08
GUSTAV MEYRINK: DER GOLEM


Spuk
(...) Mein Blick fiel auf den krummen Draht in meiner Hand, der mir vorhin zum Öffnen der Speichertür gedient hatte, und eine heiße Neugier, wohin wohl die viereckige Falltür aus dem Atelier führen könnte, peitschte mich auf.
Und ohne zu überlegen, ging ich noch einmal hinüber in Saviolis Atelier und zog an dem Griffring der Falltüre, bis es mir schließlich gelang, die Platte zu heben.
Zuerst nichts als Dunkelheit.
Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste Finsternis.
Ich stieg hinunter.
Eine Zeitlang tastete ich mich mit den Händen die Mauern entlang, aber es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, Windungen, Ecken und Winkel, Gänge geradeaus, nach links und nach rechts, Reste einer alten Holztüre, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen, Stufen hinauf und hinab.
Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde überall.
Und noch immer kein Lichtstrahl. -
Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hätte!
Endlich flacher, ebener Weg.
Aus dem Knirschen unter meinen Füßen schloß ich, daß ich auf trockenem Sand dahinschritt.
Es konnte nur einer jener zahllosen Gänge sein, die scheinbar ohne Zweck und Ziel unter dem Ghetto hinführen bis zum Fluß.
Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen Läuften, und die Bewohner Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht
zu scheuen.
Das Fehlen jeglichen Geräuschs zu meinen Häupten sagte mir, daß ich mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben ist, befinden mußte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebte Straßen oder Plätze über mir hätten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
Eine Sekunde lang würgte mich die Furcht: Was, wenn ich im Kreise herumging!? In ein Loch stürzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht mehr weitergehen konnte!? (...)
Plötzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
Ich blieb stehen und starrte hinauf.
Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum merklicher Schimmer von Licht.
Mündete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
Ich richtete mich auf und tastete mit beiden Händen in Kopfeshöhe um mich herum: Die Öffnung war genau viereckig und ausgemauert.
Allmählich konnte ich darin als Abschluß die schattenhaften Umrisse eines waagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine Stäbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwängen.
Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
Offenbar endeten hier die Überbleibsel einer eisernen Wendeltreppe, wenn mich das Gefühl meiner Finger nicht täuschte?
Lang, unsagbar lang musste ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden konnte, dann klomm ich empor.
Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in Mannshöhe über der anderen.
Sonderbar: Die Treppe stieß oben gegen eine Art horizontalen Getäfels, das aus regelmäßigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein herabschimmern ließ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung besser entscheiden zu können, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem Erstaunen, daß sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf Synagogen findet, bildeten.
Was mochte das nur sein?
Plötzlich kam ich dahinter: Es war eine Falltür, die an den Kanten Licht durchließ! Eine Falltür aus Holz in der Gestalt eines Sternes.
Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drückte sie aufwärts und stand im nächsten Moment in einem Gemach, das von grellem Mondschein erfüllt war.
Es war ziemlich klein, vollständig leer bis auf einen Haufen Gerümpel in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
Eine Türe oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben benützt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern immer wieder von neuem absuchte.
Die Gitterstäbe des Fensters standen zu eng, als daß ich den Kopf hätte durchstecken können, so viel aber sah ich:
Das Zimmer befand sich ungefähr in Höhe eines dritten Stockwerks, denn die Häuser gegenüber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich tiefer.
Das eine Ufer der Straße unten war für mich noch knapp sichtbar, aber infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe Schlagschatten getaucht, die es mir unmöglich machten, Einzelheiten zu unterscheiden. (...)
Wieder sah ich mich im Zimmer um: Nichts, was mir auch nur den kleinsten Aufschluß gegeben hätte. -
Die Wände und Decke waren kahl, Bewurf und Kalk längst abgefallen und weder Nagellöcher noch Nägel, die verraten hätten, daß der Raum einst bewohnt gewesen.
Der Boden lag fußhoch bedeckt mit Staub, als hätte ihn seit Jahrzehnten kein lebendes Wesen betreten.
Das Gerümpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich mich. Es lag in tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
Dem äußeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Knäuel geballt.
Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
Ich tastete mit dem Fuß hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen Teil davon in die Nähe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer übers Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da langsam aufrollte.
Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
Ein Metallknopf vielleicht?
Allmählich wurde mir klar: Ein Ärmel von sonderbarem, altmodischem Schnitt hing da aus dem Bündel heraus.
Und eine kleine weiße Schachtel oder dergleichen lag darunter, lockerte sich unter meinem Fuß und zerfiel in eine Menge fleckiger Schichten.
Ich gab ihr einen leichten Stoß: Ein Blatt flog ins Helle.
Ein Bild?
Ich bückte mich: Ein Pagat?
Was mir wie eine weiße Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
Ich hob es auf.
Konnte es etwas Lächerlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem gespenstischen Ort!
Merkwürdig, daß ich mich zum Lächeln zwingen mußte. Ein leises Gefühl von Grauen beschlich mich.
Ich suchte nach einer banalen Erklärung, wie die Karten wohl hierhergekommen sein könnten, und zählte dabei mechanisch das Spiel. Es war vollständig: 78 Stück. Aber schon während des Zählens fiel mir etwas auf: Die Blätter waren wie aus Eis.
Eine lähmende Kälte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so erstarrt waren meine Finger. (...)
Ein Schauer nach dem anderen jagte mir über die Haut. Schicht um Schicht drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Körper ein.
Ich fühlte mein Skelett zu Eis weden und wurde mir jedes einzelnen Knochens bewußt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror. (...)
Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich stürzte darauf zu und zog sie mit schlotternden Händen über meine Kleider.
Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
Ein Geruch von Moder ging von ihm aus.
Dann kauerte ich mich in dem gegenüberliegenden Mauerwinkel zusammen und spürte meine Haut langsam, langsam wärmer werden. Nur das schauerloche Gefühl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos saß ich da und ließ meine Augen wandern: Die Karte, die ich zuerst gesehen - der Pagat -, lag inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
Unverwandt mußte ich sie anstarren.
Sie schien, so weit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt und stellte in hebräischen Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfränkisch gekleidet, den grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm erhoben, während der andere abwärts deutete.
Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame Ähnlichkeit mit meinem, dämmerte mir ein Verdacht auf? -
Der Bart - er paßte so gar nicht zu einem Pagat -, ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke zu dem Rest des Gerümpels, um den quälenden Anblick los zu sein.
Dort lag sie jetzt und schimmerte - ein grauweißer, unbestimmter Fleck - zu mir herüber aus dem Dunkel. Mit Gewalt zwang ich mich zu überlegen, was ich zu beginnen hätte, um wieder in meine Wohnung zu kommen:
Den Morgen abwarten! Unten die Vorübergehenden vom Fenster aus anrufen, damit sie mir von außen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne heraufbrächten! Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden Gänge zurückfinden, würde mir nicht gelingen, empfand ich als beklemmende Gewißheit. Oder, falls das Femster zu hoch läge, daß sich jemand mit einem Strick...? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich: Jetzt wußte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang - nur mit einem vergitterten Fenster -, das altertümliche Haus in der Altschulgasse, das jeder mied! Schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an einem Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster zu schauen, und der Strick war gerissen und... Ja: Ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem jedesmal verschwand!
Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkämpfen konnte, lähmte jedes Weiterdenken, und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der da so eisig aus der Ecke herüberwehte, segte es mir vor, schneller und schneller, mit pfeifendem Atem - es half nichts mehr: Dort drüben der weiße Fleck - die Karte - sie quoll auf zu blasigen Klumpen, tastete sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurück in die Finsternis. Tropfende Laute - halb gedacht, geahnt, halbwirklich - im Raum und doch außerhalb um mich herum und doch anderswo, tief im eigenen Herzen und wieder mitten im Zimmer, erwachten: Geräusche, wie wenn ein Zirkel fällt und mit der Spitze im Holz steckenbleibt!
Immer wieder: der weißliche Fleck! Eine Karte, eine erbärmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir ins Hirn hinein. -
Umsonst, jetzt hat er sich dennoch - dennoch Gestalt erzwungen - der Pagat - und hockt in der Ecke und stiert herüber zu mir mit meinem eigenen Gesicht. (...)

GUSTAV MEYRINK

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