where the dust dwells
and the rust sings
dusk is silently falling
like silver snowflakes
into oblivion

19 December 2010

BOOKS FOR URBAN EXPLORERS # 2
PETER ROSEI: FRÜHE PROSA

Neben den Pförtnerhäusern standen die Brennesseln beinahe mannshoch. An feuchten Stellen wucherte der Huflattich. Seine großen Blätter waren von Schneckenspuren überzogen. Aus den Mauern blickten ihn viele Gesichter an. Mit ausgebreiteten Armen und offenen Mündern standen diese Menschen vor ihm, leicht nach vorne gebückt, angestemmt gegen die Kraft des hier über der grauen Ebene ewig sausenden Windes. Eine Sandfontäne, die für Sekunden hinter ihnen starr in der Luft stand, bevor sie der Sturm in einem Wirbel davonriss, hatte die Form einer geöffneten Hand. Die Risse in den Mauern waren schwarz vor Spinnen. Du glaubst, der Riss ist nur oberflächlich, aber er geht weit in die Tiefe. Zwischen deinen Augen ist der Riss, zwischen deinen Lungen, zwischen deinen Beinen ist der Riss. Von der Gutsherrin erzählt man, ihre Haut sei wie Milch gewesen. Wenn man an Milch denkt, denkt man an Schlangen. Ein Gedanke ruft den anderen herbei. Man streckt die Hand in die Höhe zum Gruß. Man öffnet den Mund zum Gruß. Es ist eine kleine, dunkle, stumme Höhle in der unendlichen Höhle. Man schließt die Augen gegen Sand und Sturm. Früher hat man geweint. Der Efeu schlingt sich bis unter die Dachtraufe hinauf. Auch er ist voller Getier. Seine Ranken sind stark wie die Schlangen. Könnte man den Kopf in einen Schraubstock einspannen, um immerzu nur in Betrachtung des Guten zu leben und dadurch selbst gut zu werden, es würde sich bald zeigen, dass es das Herz nicht ertragen kann, dass es die Augen nicht fassen können. Mit halbblinden Augen würde man - die Hände zerrten schon lange an den Schraubzwingen, um sie zu öffnen - das Gesicht des Teufels erkennen. Eine der Türen war aufgebrochen. Am Türblatt war ein zwölfzackiger Stern eingeschnitzt, an den Türpfosten Kreise. Er stieß die Bretter zur Seite und trat in den Flur ein. Ein großes Stück der Decke war eingestürzt. Der Pförtner war in den Unruhen erschossen worden, weil er sich auf die Seite der Herrschaft gestellt hatte. Seine Frau und seine Kinder hatte man erst verschont, sie aber einige Tage später gleich vor dem Haus in einem halbstündigen Verfahren verurteilt und erschossen. Die Treppe zum Dachboden hinauf stand noch. Er scheuchte einen großen Vogel auf, eine Eule wahrscheinlich. Ameisen zogen, einen diagonalen, dunklen Strich bildend, über die rechte Wand. Am Fuß der Treppe lag eine Petroleumlampe. Linker Hand hatte man einen Haken in die Wand geschlagen. Eine Rostspur ging von ihm aus. Das Licht der Petroleumlampen in der Nacht. Heute wie damals blicke ich zu den Sternen hinauf und warte auf etwas. Nachts bellen die Hunde. Im Sommer zirpt es im Gebüsch. Im Herbst fällt der Regen in die Stoppelfelder. Auf den Lachen steht in der Früh das Eis. Im Winter friere ich. Eine lange Zeit, seit damals, dachte er. Heute heute, morgen heute, in zwanzig Jahren heute usf. Im November versinkt das Land in Regen und Schlamm. Es ist ein Glück, dass man sich an so wenig erinnert. Öfter kann man die Leute reden hören: "Es ist ein Glück, dass wir nicht wissen, was kommt." Wenn ich die Hände über diese Mauern gleiten lasse, spüre ich den kleinen Leib, der ich war. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich, wer ich bin. Er stieg die Treppe zum Dachboden hinauf. Durch die Dachluken strömte das Licht ein. Der Staub, den er mit seinen Füßen aufwirbelte, stieg tanzend darin auf. Durch eine Luke betrachtete er die Hügel, die sich vor ihm ausbreiteten. Ein Stück Straße leuchtete zu ihm herauf. Ein Kahlschlag, der gradlinig die Flanken des Hügels hinauflief, erschien ihm wie ein Zeichen der Strafe. Nach der Dunkelheit des Flures empfanden seine Augen die Sonne doppelt hell. So täuschen wir uns, dachte er. Aus der Wüste heben wir unseren Blick zu den Gestirnen. Auf die Ödnis ringsumher können wir unsere Hoffnung nicht richten, von dort ist nichts zu erwarten, also richten wir sie in die Ferne.
LETZTE LIEBE, FRÜHE PROSA

PETER ROSEI
RESIDENZ VERLAG

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